Einige von euch kennen meinen langjährigen Freund Gerhard aus Aachen. Früher haben wir unsere Ferien damit verbracht, gemeinsam Kinderfreizeiten zu leiten, was natürlich eine längst vergangene Episode aus alten Zeiten ist. Trotz der recht großen räumlichen Distanz zwischen Aachen und München/Stuttgart haben wir nie den Kontakt verloren, auch wenn er seltener geworden ist.
Gerhard hat Bechterew. Wie ich. Etwas milder zwar, aber wir konnten immer sehr gut darüber reden, was diese Krankheit mit uns anstellt und auf den ersten Blick erkennen, wie gut oder schlecht es dem jeweiligen Gegenüber gerade so ging. Natürlich hat bemerkt, dass „meiner“ im vergangenen Jahr große Fortschritte zum Negativen gemacht hatte. Dass die Bewegungsfähigkeit stark gelitten hatte, dass ich arg krumm daher kam. Typische Bechterew-Entwicklung halt, die ihm zum Glück nicht so stark erwischt hat. Was allerdings nicht bedeutet, dass er besser dran gewesen wäre, ganz im Gegenteil. Denn zusätzlich zum Bechterew leidet er seit mehr als zehn Jahren an Leukämie.
Man könnte sagen, dass er das Beste daraus gemacht hat. Kein Lamentieren, kein Versinken im Selbstmitleid. Stattdessen der Versuch, möglichst „normal“ weiterzuleben. Trotz der im Grunde regelmäßig wiederkehrenden Chemotherapien. Anfangs haben diese relativ gut geholfen, die letzten allerdings nicht mehr. Als logische Konsequenz daraus vor ein paar Monaten nun der Entschluss zu einer Stammzellen-Behandlung, die einen monatelangen Krankenhausaufenthalt bedeutete. Den hat er hinter sich.
Ich wusste genauso um diese, wie er um die massive Verbesserung meines Gesundheitszustandes dank des neuen Medikamentes wusste. Hatten wir uns geschrieben.
Wann immer ich beruflich in Aachen zu tun habe, versuche ich mich dort mit ihm zu verabreden. So auch diese Woche, als ich mal wieder für einen Tag dort war. Gemeinsam Abendessen. Tun wir fast immer. Aber das diesmalige Treffen war anders als sonst. Denn er sah mich das erste mal in meinem aktuellen Zustand, ich ihn in seinem.
Da saßen wir also nun. Er, mit gerade wieder beginnendem Haarwuchs, noch stark eingeschränkt bezüglich der Dinge, die ihm sein Körper schon wieder erlaubt. Aber guter Dinge und recht hoffnungsvoll, dass die letzte Therapie ein großer Fortschritt war. Die entsprechenden medizinischen Werte deuten darauf hin, auch wenn eine entsprechende Sicherheit noch lange nicht gegeben sein wird. Ansonsten der Gerhard, den ich kenne und schätze. Ich, schmerzfrei und aufrecht wie (aus seiner Sicht) lange nicht mehr. Und erzählen uns unsere medizinische Geschichte.
Er von den letzten Chemos, den Nebenwirkungen, der Langeweile in den Kliniken, der aus Sicherheitsgründen fast allumfassenden Isolation nach der Transfusion neuer Stammzellen. Von den Gegenreaktionen des Körpers. Vom mühsamen, langwierigen Genesungsprozess und der Menge an Medikamenten, auf die er aktuell angewiesen ist, von der Dankbarkeit, in einem Land zu leben, bei dem solche Fälle durch Versicherungen abgedeckt sind.
Ich vom Weg hin zu meiner Basistherapie mit den TNF-Alpha-Blockern und der für mich beinahe unbegreiflichen Wirkung derselben und meiner Begeisterung darüber. Aber eben auch über die Ängste und die Unsicherheit, ob die ja nun nicht eben harmlosen denkbaren Nebenwirkungen mich irgendwann erwischen und schlimmstenfalls in die Situation treiben könnten, in der er sich seit zehn Jahren befindet.
Natürlich stufe ich seine Krankheit als wesentlich schlimmer ein als meine. Natürlich sein Leiden größer als meines. Ich ziehe mehr als nur einmal den Hut davor, was er durchgestanden hat und nach wie vor durchsteht. Bewundere ihn für den Umgang mit der Krankheit. Bin beeindruckt vom Willen, nicht einfach aufzugeben. Eine jener „Was-jammere-ich eigentlich?“-Situationen, ist Bechterew nicht einfach harmlos, klein und bedeutungslos gegen Blutkrebs? Plötzlich erscheinen mir -bei aller Freude- meine eigenen Fortschritte geradezu lachhaft und unwichtig gegenüber seinen.
Für mich nicht nachvollziehbar, scheint ihm das nicht anders zu gehen. Ich habe den Eindruck, als freue er sich erheblich mehr für mich und meine Fortschritte, als über seine eigenen. Als sei es ihm wichtiger, mich in stark verbessertem Zustand zu sehen als er sich selber.
Als wir uns nach etwas über zwei Stunden voneinander verabschieden, stehen die guten Wünsche auf dass die eingeschlagenen Wege so weitergehen mögen beinahe im Hintergrund. Es überwiegt die Freude darüber, dass es dem jeweils Anderen besser geht. Ich habe den Eindruck, als stünden wir beide kurz vor den Tränen – ich war’s definitiv. Weil ich unendlich froh darüber bin, dass er lebt und das vermutlich auch noch ein ganzes Weilchen tun wird. Und er, weil er einem Phi gegenübersteht, dem es so gut geht wie seit vielen Jahren nicht.
Bei allem Mist, den es so mit sich bringen kann: Das Leben kann so wunderschön sein!